Der Wächter im Holz

Vorwort

Es gibt Dinge, die man nicht sieht, doch sind sie da, unsichtbar.

Ein kalter Lufthauch, wenn keiner die Tür geöffnet hat.
Ein Gewicht auf der Schulter, das sich nicht ablegen lässt.

Manchmal sind es stille Begleiter, die den Weg durch die Dunkelheit zeigen.
Vielleicht ist es Erinnerung. Vielleicht ist es Schuld. Vielleicht etwas ganz anderes.

Diese Geschichte handelt von einem, der sich selbst gehört und doch nicht ganz allein ist.

Kapitel 1: Von der Anstalt zur Werkstatt

Er war sechzehn, als sie ihm im Waisenheim das Tischlerhandwerk beibrachten.
Andere lernten im Büro oder in der Küche. Er nicht.

Seine Hände suchten Holz. Schon immer.

Es war nicht nur eine Art von Beziehung zum Material.
Es war nicht nur die Liebe zum Geruch von Holz, Leim oder Öl.
Es war tiefer.

Es sind die Fasern.
Es sind die Jahresringe.
Es sind Makel, eines Brettes, das es individuell macht, einzigartig.
Es sind Astlöcher, die ihn ansahen und auf eine Berührung warteten.

Eine Berührung, die totes Holz belebte.
Eine Berührung, die es zum Atmen brachte.

Er erinnerte sich an die erste Platte, die man ihm gab: grob, hart, uneben.
Aber unter seinen Fingern schien sie sich zu verändern.

Er spürte es, das Holz, wie es lebte unter seinen Händen. Er sprach nie darüber.

Als er zwanzig war, verließ er das Heim.
Mit nichts weiter als einer Tasche und einem Brief, den ihm die Anstalt mitgab:

„Ein stiller, sorgfältiger Junge. Gelerntes Handwerk: Tischler. Empfehlenswert.“

So kam er zu Bastian Holzbau.

Ein Familienunternehmen, ein Vater, eine Frau, zwei Söhne, eine Werkstatt.

Und dort wartete etwas auf ihn, das er nicht erwartet hatte.

Kapitel 2: Die Werkstatt

Es war der dritte Tag seiner neuen Arbeit, und zum ersten Mal schloss er am Abend die Tür nicht hinter sich.
Die anderen waren schon gegangen: Herr Bastian, der Chef, und die beiden Söhne.

Er blieb zurück.
Der Schlüssel lag in seiner Jackentasche.
Er wusste nicht genau, warum.

Er trat zur Werkbank. Der Geruch von Holz und Öl stand schwer in der Luft. Ein Astloch im Eichenbrett vor ihm schien ihn anzusehen.

Er strich mit der flachen Hand über die Maserung.

Und dann war es wieder da.
Dieser Hauch.
Als würde jemand ganz nah hinter ihm stehen.

Er drehte sich nicht um.
Er hatte es gelernt, sich nicht zu schnell zu drehen. Damals schon, im Heim.

Er blieb stehen. Atmete flach.
Es war nicht Angst, nicht mehr. Es war eher ein Wissen.

Sein rechter Zeigefinger tastete über das raue Holz. Und während er dort stand, stellte er sich vor, dass auch das Holz atmete. Langsam. Alt.

In der Dunkelheit über der Werkbank hing ein einzelnes Licht. Staub tanzte darin.

Und er dachte:
Wenn sie schon da sind – die Stimmen, die kalten Hauchwesen – dann sollen sie bleiben.

Kapitel 3: Am Tisch

Der Tag verging, wie sie es alle tun: Arbeit, die sich wiederholt.

Als der letzte Hobelstrich getan war, legte er das Werkzeug zur seite.
Er stand einen Moment einfach nur da und lauschte.
Nichts.

Er schloss die Werkstatt ab. Der Schlüssel drehte sich mit einem leichten Knacken.

Draußen war es kühl geworden. Die Luft roch nach feuchtem Laub und etwas Unsagbarem, das nur in solchen Stunden lebt.

Er ging ins Haus.

Im Esszimmer brannte bereits Licht.
Es war ein kleiner, niedriger Raum, die Wände mit dunklem Holz vertäfelt.

Am Tisch saßen Herr Bastian, seine Frau, und die beiden Söhne.
„Setz dich,“ sagte Frau Bastian.

Er setzte sich.
Vor ihm stand ein Teller, ein Löffel daneben, ein Korb mit Brot.
Niemand sprach viel.

Er kaute langsam, hörte das Klappern der Löffel, das Kratzen eines Stuhls.
Manchmal traf ihn ein Blick. Nicht neugierig. Eher wie ein schneller Kontrollblick.

Dann, ganz kurz, fühlte er wieder diesen Hauch.
Aber er war sich nicht sicher, ob es wirklich da war.

Er blickte zu den Holzbalken an der Decke.
Dunkles, schweres Holz. Und da war es, ein Astloch. Es sah ihn an und er wußte,
das Astloch weiß alles. Und irgendwie fühlte er sich beschützt.

Aber er sagte nichts.

Er aß still zu Ende.
Und während die Familie sich unterhielt, dachte er wieder an den Satz aus dem Heim:

Wenn du draußen bist, bist du frei.

Er fragte sich, ob das hier Freiheit war.
Oder ob es einfach nur die nächste Wand war, gegen die man sprach.

Kapitel 4: Der Wächter in der Decke

In jener Nacht konnte er nicht schlafen.
Das Bett war schmal, die Matratze dünn, das Zimmer kalt.
Aber das war es nicht, es war etwas anderes. Etwas, das er
im Esszimmer an der Decke sah, ein Astloch im Balken.

Er lag da und lauschte.

Es war auch kein Geräusch von draußen, das ihn wach hielt.
Es war das Wissen um das Astloch.

Schon beim Abendessen war es ihm aufgefallen.
An der Decke, genau über ihm, war es:
Ein rundes, dunkles Loch im alten Balken.

Nicht groß. Nicht auffällig.
Aber genau mittig.
Als wäre es absichtlich dort.

Er stand auf. Barfuß.

Er öffnete die Tür zum Flur, ging leise hinunter.
Unten war es dunkel.

Nur über dem Esstisch hing schwaches Licht.

Er trat in den Raum, stellte sich unter den Balken.
Sah hinauf.

Das Loch war da.
Ein schwarzes Loch im Balken.

Er legte den Kopf schief.
Ein Atemzug. Vielleicht seiner.
Vielleicht ein anderer.

Beide sahen sich an und wußten von einander.

„Du bist immer hier, nicht wahr?“

Seine Stimme klang leise.
Das Loch antwortete nicht.

Er hob die Hand, als könne er es berühren,
aber es war zu hoch.

„Du passt auf.“

Er sagte es nicht als Frage.
Er sagte es einfach. Und dann drehte er sich um,
 ging, stieg wieder die Treppe hinauf und legte sich
wieder ins Bett.

Mit dem Wissen um das Astloch schlief er ein.

Kapitel 5: Die Wunde

Es war ein Tag wie die anderen.
Schleifen, hobeln, Leisten zurechtlegen.

Er arbeitete allein in der hinteren Ecke der Werkstatt.

Der Hobel glitt über das Holz.
Dann ein kurzer Ruck.

Er zog die Hand zurück.
Am Mittelfinger, ein schmaler Schnitt.
Blut dunkelrot. Er erinnerte sich an das Rot.
In der Werkstatt im Heim hatte er sich verletzt
und Blut quoll dunkelrot hervor.

Er verspührte damals keinen Schmerz und sah
nur das Dunkelrot.

Er starrte auf den Finger und dachte, wo bleibt
der Schmerz?

Blut tropfte langsam auf das Holz.

Er hielt die Hand hoch, presste die
Finger zusammen um das Blut aufzuhalten.

Er trat einen Schritt zurück.
Sein Blick fiel auf das Eichenbrett,
dass in der Ecke stand.

Das Astloch sah ihn an.

Er wusste nicht, warum, aber er streckte die verletzte Hand aus.
Ganz langsam.
Die Fingerspitzen suchten die raue Oberfläche.

Er strich über das Astloch.
Einmal.

Es war kühl.
Er sah auf seine Hand.
Keine Spur von Blut.
Der Schnitt war weg.
Einfach verschwunden.

Für einen Moment stand er nur da.

Dann tastete er die Stelle ab.
Nichts.

Er blickte wieder zum Astloch.
Es war dasselbe wie vorher.
Still.
Dunkel.

Als er schließlich die Werkstatt verließ, lag der
Geruch von  Holz immer noch schwer in der Luft.

Und an seiner Hand war nichts mehr zu sehen.
Keine Schramme, keine Rötung, nichts – makellos.

Kapitel 6: Für sich behalten

In der Nacht lag er wach und starrte an die Decke.
Sein Blick suchte das Astloch dort oben, obwohl es in
diesem Zimmer keines gab.

Die Hand lag offen auf der Decke.
Er hatte sie immer wieder betrachtet.
Aber da war nichts.

Und in seinem Kopf drehte sich eine Frage:
Sollte er es sagen?

Am nächsten Morgen, beim Frühstück vielleicht.
Aber wie sollte er den Satz beginnen?

Er wusste, was sie denken würden:

Ein Waisenkind, allein zu lange.

Nein.
Es war besser, es für sich zu behalten.

Er stand auf, trat ans Fenster.
Der Morgen war grau.

Und für einen Moment sah es aus, als würde der
Nebel selbst ein Gesicht tragen.
Ein flüchtiges Bild.
Weg, noch bevor er blinzeln konnte.

Er legte die Hand an das kalte Fensterglas und sagte leise:

„Du bist also da.“

Dann drehte er sich um, zog sich an und ging wieder in die Werkstatt.

Ohne es jemandem zu sagen.

Kapitel 7: Die stillen Tage

Die Tage kamen und gingen.
Er stand morgens auf, arbeitete, aß, schlief.
Mehr verlangte niemand von ihm.

Das Astloch in der Werkstatt blieb, wo es war.
Er berührte es nicht mehr.
Aber oft glitten seine Augen darüber.

Nach Feierabend saß er manchmal draußen.
Der Hof lag still.

Manchmal rauchte einer der Söhne eine Zigarette,
wenige Meter entfernt.

Und er saß da und dachte:

Vielleicht ist das jetzt mein Leben.

So einfach.

Ohne Heim.
Ohne Stimmen in der Nacht.
Nur das Holz. Und das Astloch.

Einmal, an einem dieser Abende, fragte ihn Frau Bastian:

„Ist alles in Ordnung bei dir?“

Er hob den Blick, sah sie an.
Sie lächelte.
Er nickte.

„Ja. Alles gut.“

Und es stimmte.
Die Wunde war vergessen.
Der Atem war still geworden.

Vielleicht, dachte er, war es wirklich vorbei.

Vielleicht war es nie wirklich da gewesen.

Er schnitt sich ein Stück Brot ab und hörte zu, wie
Herr Bastian von einem neuen Auftrag sprach.

Die Stimmen der Familie vermischten sich mit dem
leisen Knacken der Balken über ihm.

Und irgendwann bemerkte er, dass er gar nicht mehr
nach dem Astloch suchte.

Es war da.
Aber es wartete.
Genau wie er selbst.

Kapitel 8: Der letzte Abend

Die Werkstatt war still.
Er war der Letzte.

Die Sonne stand tief.
Er stand an der Hobelbank, legte die Hand auf das glatte Holz.

Der Duft von Holz, von Leim, von altem Staub – alles war da.

Er hatte nichts mehr zu beweisen.

Er drehte sich langsam um, ließ den Blick durch den Raum wandern.

Dann stockte er.

Das Eichenbrett.

Er trat näher.
Das Brett lag da.
Aber das Astloch – es war weg.

Er drehte es um. Noch einmal. Noch einmal.
Nichts.

Er ging zu den Regalen.
Er fasste jedes Brett an.
Nichts.

Das Astloch war nicht mehr da.

Für einen Moment blieb er einfach stehen.
Dann atmete er tief ein.
Holz, Staub, Licht.

Er lächelte.

Nur für sich.

Er strich mit der Hand über das Brett,
dort, wo das Loch gewesen war.
Glatt.
Vollständig.

Er legte das Brett zurück, löschte das Licht
und schloss die Tür.

Draußen war es kühl.
Er zog die Jacke enger um die Schultern und ging
langsam über den Hof.

Kein Wind. Kein Hauch.
Nur sein eigener Atem.

Und es war still in ihm.
Vollständig.

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